Die Businesswochen für die Region BB starten am 14.10.2024

Dr. Reinhard und Lukas Winkelmann

Volker Siegle
Reinhard, wie viele Jahre bist du jetzt als Zahnarzt selbstständig?
Dr. Reinhard Winkelmann
Nächstes Jahr sind es genau 40 Jahre.

Volker Siegle
40 Jahre? Wow, das ist enorm.
Wenn man in deine Praxis kommt, sich umschaut und deinen Sohn sieht, scheint es so, als ob es schon gesichert wäre, dass die Praxis durch ihn weitergeführt wird. Trügt der Schein oder ist dem so?
Dr. Reinhard Winkelmann
Stand heute ist es so. Aber vor ein paar Jahren war das alles andere als klar.

Volker Siegle
Der Hintergrund meiner Frage ist: War es schon zu Beginn des Studiums von Lukas klar, dass er die Praxis übernehmen wird?
Dr. Reinhard Winkelmann
Nein. Ich wusste zunächst gar nicht, dass er Zahnmedizin studieren will. Das hatte er mir nach dem Abitur ganz unerwartet mitgeteilt. Ich war ganz schön überrascht. Danach ging es mit dem College und dem Studium an der Universität von Philadelphia auch schon los.

Volker Siegle
Wie lange ist das ungefähr her?
Dr. Reinhard Winkelmann
Ungefähr zehn Jahre. Irgendwann fragte er dann, bezeichnenderweise die Mama und nicht mich, ob ich denn erwarten würde, dass er die Praxis übernimmt. Ich sagte ihr, dass ich das nicht erwarten würde. Ich hätte nur gerne die Chance, ihm einige Tricks zu zeigen, die er an die Universität nicht lernt und die ihm später das Leben leichter machen.“

Volker Siegle
War das eine Strategie von dir, um deinem Sohn gegenüber den Erwartungsdruck zu nehme? Oder wärst du tatsächlich emotional frei gewesen mit seiner Wahl?
Dr. Reinhard Winkelmann
Absolut! Wie drückte Hennig Mankell es so treffend aus. „Wir sollten den Kindern das Fliegen beibringen, aber nicht entscheiden wohin sie fliegen. Das war schon unser Standard bevor ich dieses Zitat kannte und für mich bedeutet das: Wohin auch immer unsere Kinder sich hinbewegen, wir werden sie begleiten, wir werden hinterfragen, aber nicht werten. Es ist ihr Leben. Sie müssen damit glücklich werden, nicht ich.
Zum Ende des Studiums kam die Frage auf, ob Lukas nach Gärtringen in die Praxis kommt oder nicht. Zumal es zunächst schwierig schien, hier überhaupt die Approbation zu bekommen. Aber er hatte in den Semesterferien immer hier in der Praxis gejobbt und hat nach Ende des Studiums begonnen, hier kleinere Aufgaben zu übernehmen. Er kannte also die Praxis.

Volker Siegle
Wann war das in etwa?
Dr. Reinhard Winkelmann
2019. Ich ließ ihn Planungen machen, die er verdammt gut gemacht hat. Da wurde mir klar, dass das Studium an der Universität in Philadelphia nicht vergleichbar ist, mit dem was die Studenten in Deutschland lernen.

Volker Siegle
Was bedeutet das?
Dr. Reinhard Winkelmann
Die Studenten, die von der Dental School in Philadelphia (eine der acht Ivy-League-Universitäten) kommen, sind fertig. Im Gegensatz zu Studenten, die ich aus Freiburg, Tübingen oder Heidelberg kenne. Die kommen frisch von der Uni, haben die Erlaubnis, zu praktizieren und können ... nichts.

Volker Siegle
Das klingt erschreckend!
Dr. Reinhard Winkelmann
Das ist erschreckend!

Volker Siegle
Worin genau liegt der Unterschied? Warum ist eine amerikanische Universitätsausbildung besser als eine deutsche, die zudem bei uns einen guten Ruf haben?
Dr. Reinhard Winkelmann
Der gute Ruf ist eines. Aber diese amerikanische Universität hat Geld. Entsprechend viel kostet ein Studium dort. Eine Durchschnittsfamilie kann sich das gar nicht leisten. Es ist durchaus üblich, dass ein Student nach seinem Abschuss, eine halbe Million Dollar Schulden hat.
Damit will ich sagen, dass die Universitäten in Amerika oft eine viel, viel bessere Ausstattung haben. Dort gibt es beispielsweise Bohrsimulatoren auf Force-Feedback-Basis. Davon hatte ich nie zuvor gehört. Diese 3-D-Simulationen funktionieren durch Kraftrückkopplung derart täuschend echt, dass man das Gefühl hat, tatsächlich im Zahn oder Knochen eines Patienten zu bohren. Nur dass dieser und das Werkzeug eben virtuell sind. Deshalb spielen Absolventen dieser Universität in einer völlig andere Liga ist als bei uns.

Volker Siegle
Wenn die Unterschiede so enorm sind und dein Sohn quasi komplett fertig von der Universität kam, wo war dann doch der Punkt, wo deine Erfahrung und dein Wissen ihm weiterhelfen konnte?
Dr. Reinhard Winkelmann
Das sind oft Kleinigkeiten. Beispielsweise, wie hört sich ein guter Biss an? Oder wie geht man mit Situationen um, in denen notfallmäßig eine Prothese repariert werden muss? Oder wie löst man gewisse Schmerzsituationen, wenn der Patient es nicht konkret formulieren kann? Da müssen kreative Lösungen her. So etwas lernt man nicht an der Uni.

Volker Siegle
Wie war denn die Situation, dass er von dir nicht die Erwartungshaltung hatte, die Praxis zu übernehmen. aber immer wieder kam und von dir gelernt hat?
Dr. Reinhard Winkelmann
Wir hatten ein Abkommen, dass wir zuhause nicht über Zähne reden. Er hat aber trotzdem immer wieder Fragen gestellt. Am Anfang waren es eher zahnmedizinische Fragen. Jetzt geht es mehr um Organisation, Administration und Unternehmensführung.

Volker Siegle
Das hört sich so an, dass die Entscheidung, dass er übernehmen wird, gefallen ist.
Dr. Reinhard Winkelmann
Ja, sie ist längst gefallen.

Volker Siegle
Wann ist sie getroffen worden? Denn 2019 war er noch in dem Modus, dass er erst einmal schauen möchte.
Dr. Reinhard Winkelmann
Das hat sich 2020/2021 herauskristallisiert.

Volker Siegle
Gab es denn diesen einen Augenblick, an dem das klar wurde?
Dr. Reinhard Winkelmann
Nein. Es war zunächst so, dass Lukas dem deutschen Verwaltungswahnsinn entfliehen und wieder zurück in die USA wollte. Letztlich kristallisierte sich aber heraus, dass er doch übernehmen möchte. Wir waren uns einig, dass das nicht für die Ewigkeit sein muss und haben eine Gemeinschaftspraxis gegründet, die wir seit 1. April diesen Jahres haben. Damit verbunden, hat er Aufgabenbereiche übernommen, wie z.B. Personal.

Volker Siegle
Du hast darüber gesprochen, wie die Prozesskette über die Jahre verlief und was ihr voneinander gelernt habt. Manchmal scheitert es aber an ganz anderen Dingen, weil vielleicht die Mitarbeiterinnen deinen Sohn nicht akzeptieren.
Dr. Reinhard Winkelmann
Sie lieben ihn.

Volker Siegle
Wie kommt es, dass er scheinbar ohne jegliches Problem die Liebe erfahren durfte?
Dr. Reinhard Winkelmann
Er ist ein charming boy. Und alles ging auch nicht problemlos. Aber wir haben ein paar dominante Damen, die lieben ihn und ziehen den Rest mit. Und wir haben ein Abkommen, dass ich in seinen Bereiche zwar mit reinschaue. Aber so lange ich nicht das Gefühl habe, dass er einen groben Schnitzer macht, werde ich nichts tun.

Volker Siegle
Das hört sich alles so reibungslos an. Gibt es etwas, das schwer werden kann, wie etwa Neid in der Familie? Wie sehen das seine Geschwister, dass er dir vermeintlich am nächsten ist? Oder war das immer schon so in der Rangfolge?

Dr. Reinhard Winkelmann
Nein, ich denke, dass die Geschwister das völlig neutral sehen.

Volker Siegle
Geht das überhaupt in einer Familie unter Brüdern? Ich behaupte einfach mal, das geht nicht, weil es überall menschelt.
Dr. Reinhard Winkelmann
Natürlich. Ich denke, jeder hat da ein unterschiedliches Konzept. Gleichzeitig machen die Brüder sehr viel gemeinsam. Sie spielen in unterschiedlichen Ligen, das stimmt. Aber sie spielen auch miteinander.

Volker Siegle
Das hört sich alles so problemlos an. Wenn dem so ist, ist das alles in die Wiege gelegt, was Lukas mitbekommen hat?
Dr. Reinhard Winkelmann
Nein. Wir haben schon Diskussionen, aber im konstruktiven Sinn.

Volker Siegle
Gab es denn irgendeine Tretmine in dem vermeintlich mustergültigen Ablauf bei der Übergabe? Etwas, das die Sache vielleicht doch noch hätte zum Sprengen bringen können?
Dr. Reinhard Winkelmann
Ja, wenn ich nicht loslassen würde. Viele denken, ich habe das jetzt 40 Jahre gemacht, das ist mein Baby. Aber nein, das ist es nicht. Das war mein Beruf. Ich liebe meine Patienten, das ist unbenommen. Aber ein wichtiger Punkt meiner Lebensphilosophie ist, alles hat einen Anfang. Es hat aber auch ein Ende.

Volker Siegle
Wann kam für dich der Moment, als du merktest, es geht jetzt darum, in diese Kurve einzubiegen und die Gerade Richtung Ende zu nehmen?
Dr. Reinhard Winkelmann
Du brauchst nur in meinen Pass schauen. Seit meinem 63. Lebensjahr bekomme ich Rente. Plötzlich hast du einen Rentenausweis. Dann gehst du in die Staatsgalerie nach Stuttgart und kannst dir ein Rentnerticket kaufen, das ist billiger.

Volker Siegle
(lacht)
Dr. Reinhard Winkelmann
Du lachst. Der Stich geht viel tiefer als du glaubst. Ich bin jetzt 68 Jahre alt, in 12 Jahren bin ich 80. Das bedeutet, mein Ablaufdatum kommt näher. Das muss ich einfach akzeptieren.
Zudem wollte ich im Geschäftsleben immer ein Gegenüber haben, das in etwa mein Alter hat. Weil er meine Sprache spricht. Die Jungen haben auch ihre eigene Welt. Ich empfinde es so, dass gleiche Worte bei dieser Generation andere emotionale Inhalte haben als in meiner. Sprich, damit sich das Unternehmen weiterentwickeln kann ist die wichtigste Aufgabe des alten CEO, aufzuhören und einen ordentlichen Übergang zu machen.
Warum ist der Tod wichtig fürs Leben? Ohne den Tod gibt’s keine Evolution. Und die Evolution gibt es in der Biologie genauso wie in der Wirtschaft.

Volker Siegle
Gab es auch etwas in deinem Geschäftsalltag, wo du gesagt hast, ich mag jetzt wirklich nicht mehr? Etwa weil die Kunden nerviger wurden oder das Organisieren einer Praxis komplexer wurde?
Dr. Reinhard Winkelmann
Also ich glaube 99,999% aller Zahnärzte in Deutschland sind völlig genervt vom Administrativen. Ich versuche gerade, Lukas das in Häppchen zu übergeben, damit er nicht gleich davonläuft. Der Umgang mit den Patienten ist für mich eher leichter geworden. Ich muss nicht mehr diskutieren, sondern zeige die Möglichkeiten auf und erkläre, wieso nur eine davon wirklich in Frage kommt. Eigentlich hatte ich das Gegenteil erwartet, aber alles geht viel einfacher. Natürlich werde ich immer wieder gefragt, wie lange ich noch in der Praxis sein werde.

Volker Siegle
Das ist wahrscheinlich die Angst der Patienten, die sich nicht vorstellen können, dass du aufhörst. Lukas hin oder her, ich glaube einfach, du hast bei den Menschen über die vielen Jahre eben eine wichtige Vertrauensposition.
Dr. Reinhard Winkelmann
Natürlich. Wenn dich jemand Jahrzehnte begleitet hat, dann hat man diesen Vertrauensbonus. Aber inzwischen gibt es viele Patienten, die freuen sich zwar sehr, mich zu sehen. Sie freuen sich aber auch auf eine Behandlung bei Lukas. Weil er klasse ist.

Volker Siegle
Selbst der letzte Übergang funktioniert also. Dein Sohn kommt also nicht in die Praxis und hat keine Termine, weil alle zu dir möchten. Sondern auch deine Patienten haben Lukas angenommen.
Dr. Reinhard Winkelmann
Ja. Zudem gibt es Behandlungen, die für mich inzwischen extremst anstrengend sind und mir mittlerweile einfach die Kondition fehlt. Wenn man 10 Patienten hintereinander unter Zeitdruck behandeln muss und das in dieser eingeschränkten Körperhaltung, bist du danach fertig. Auch das ist ein Punkt, warum ich es an die jüngere Generation abgeben möchte.

Volker Siegle
Wenn du jetzt mehr und mehr abgibst und folglich weniger in der Praxis bist, was gibt es dann jetzt für dich in der Freizeit? Sofern man das überhaupt so nennen kann? Sprich, mit was füllst du deine Zeit, die dir jetzt zur Verfügung steht?
Dr. Reinhard Winkelmann
Wenn ich 2022 rückblickend anschaue, war die Freizeit stressiger für mich als die Praxis. So verrückt das klingen mag. Du kennst ja mein Hobby, Agora. Damit sind wir, das sind sechs Leute, seit 10 Tagen am Start und es funktioniert.

Volker Siegle
Magst du zu Agora noch etwas Genaueres sagen?
Dr. Reinhard Winkelmann
Die Website www.agora-deutschland.de hat das Ziel, Kleinstanbietern eine Plattform zu geben, damit sie gesehen werden. Das kann ein Hofladen sein, ein Nagelstudio, ein Rechtsanwalt, eine Zahnarztpraxis ... was auch immer. Die Bedingung ist keine Kette, kein Franchise-Unternehmen, keine Filialen. Ich möchte nur Regionalität und bodenständige Dinge haben.
Und da ist noch mein zweites Hobby: Ich backe so viel wie noch nie.

Volker Siegle
Wirklich? Hast du das bewahrt?
Dr. Reinhard Winkelmann
Ja! Ich habe Samstag den ganzen Tag gebacken und übermorgen wird es wieder so sein.
Dann ist da noch etwas: Ich bin Bauer geworden. (schmunzelt) Also nicht in dem klassischen Sinn. Andrea und eine Freundin bewirtschaften ein Feld mit Kartoffeln, Rotkohl, Zwiebeln und mehr. Sie arbeiteten wie verrückt, aber der outcome von diesem Feld war einfach schlecht.
Ich habe einfach mal postuliert, wenn nichts im Boden ist, kann auch nichts herauskommen. Ganz in Manager-Manier habe ich mich belesen und angefangen, zu recherchieren, was es für eine ertragreiche Bodenbewirtschaftung braucht. Während wir hier sitzen, läuft in meinem Keller gerade die Fermentation von 32 Litern effektiver Mikroorganismen und mit meiner neuen Bodenfräse kann ich den Boden richtig bearbeiten. In zwei Wochen geht’s los!

Volker Siegle
Wenn du für die Leser ein Rezept vom Loslassen hättest, was würdest du sagen braucht man, um loslassen zu können?
Dr. Reinhard Winkelmann
Du musst den Jungen den Start ermöglichen. Du darfst ihnen keine Steine in den Weg legen und musst dich einfach rausnehmen. Das ist der primäre Job des CEOs. Vor allem dann, wenn er Verantwortung für sein Unternehmen und seine Mitarbeiter hat.
Ich glaube, egal, ob du fünf Mitarbeiter hast oder 5000 geführt hast, wenn du in den Ruhestand gehst, gehst du nicht ins Nichtstun. Du wirst es nur anders tun. Du wirst immer eine Aufgabe haben, denn solche Menschen sind nicht ideenlos. Sie machen dann das, was ihnen Spaß macht. Was dann auch das Thema Hobbies relativiert. Wenn du in der Arbeitswelt bist, musst du dir die Zeit für ein Hobby mühsam freischaufeln. Du liebst es, denn es ist deine Freizeit, deine kleine Insel der Ruhe, wo du dich erholen kannst. Ich denke, der entscheidende Punkt dabei ist, dass du dir diese Zeit freischaufeln musst. Und jetzt hast du sie plötzlich.

Volker Siegle
Ist sie dann noch genauso wertvoll?
Dr. Reinhard Winkelmann
Nein. Die Hobbies verlieren ihre Bedeutung, zumindest bei mir ist das so. Die Wertigkeiten verschieben sich. Deswegen bin jetzt wie ein Manager an der Fruchtbarkeitmachung vom Acker dran. Da mach ich schon keinen Blödsinn.

Volker Siegle
Was wünschst du dir für deinen Sohn und deiner Praxis, wie du sie jetzt siehst. Wo siehst du die Praxis in fünf Jahren?
Dr. Reinhard Winkelmann
Steil bergaufgehend. Das liegt aber nicht nur an ihm. Das liegt an der gesellschaftlichen Entwicklung, die wir durchmachen. Wir haben vor dreißig Jahren gewusst, dass wir einen Ärztemangel bekommen werden. Und trotzdem hat diese Gesellschaft am Numerus Clausus festgehalten. Das hat dazu geführt, zumindest aus der Sicht der Zahnmedizin, dass mit mir 50 Prozent der Zahnärzte weg brechen. Aber es sind nicht nur 50 Prozent der Zahnärzte, sondern auch die Arbeitsleistung von 50 Prozent Praxisinhabern, selbstständigen Zahnärzten. Was nachkommt sind 70-80 Prozent Frauen. Diese haben andere Lebensmodelle. Die wollen nicht so einen Laden an der Backe haben, wie ich. Das bedeutet, es kommen weniger Zahnärzte nach und die wollen oder können weniger arbeiten. Beispielsweise weil sie Kinder haben.
Das bedeutet, ich bin überzeugt, die zahnmedizinische Versorgung wird eine Mangelleistung werden. Was allerdings dagegen spricht ist, dass wir sehr erfolgreich Prophylaxe machen. Für die, die es mitmachen, passiert nichts mehr und der Bedarf an zahnmedizinischer Betreuung ist gering. Trotzdem wird unterm Strich die Zahnmedizin ein Mangelberuf, was für die Patienten eine schlechte Nachricht ist.